"Ach lass uns erst einmal den See erreichen und nachsehen, ob Abby dort ist oder nicht. Nachher rufen wir dort umsonst an und sie stellen uns Fragen, die wir gar nicht beantworten können. Und ich glaube Renee hätte längst angerufen, wenn Abby aufgetaucht wäre. Hoffe ich zumindest," sagte David und konnte den See schon zwischen den Bäumen näher kommen sehen. "Wir scheinen ja auch gleich da zu sein."
"Das denke ich auch, es sei denn, dass dort wieder das Chaos ausgebrochen ist und alles drunter und ..." Annie brach ab und sah David erschrocken an. "Oh, das ... das wollte ich jetzt nicht sagen", fuhr sie kleinlaut fort. "Ich meine, das ... ich wollte dich nicht beunruhigen. Da wird schon alles in Ordnung sein und ja, ich denke auch, dass Renee so umsichtig sein wird, sich zu melden. Wir haben Abbys Handy ja nicht umsonst dabei." Annie zog das Gerät aus ihrer Hosentasche und warf einen Blick darauf. Nicht, dass sie den Anruf verpasst oder überhört hatten. Aber dem war nicht so. Kein Anruf in Abwesenheit, keine SMS, die ungelesen war ... nichts, was darauf hindeutete, dass jemand versucht hatte, sie zu kontaktieren. Ob sie das beruhigen sollte, wusste Annie jedoch nicht. Aber sie wollte ja nicht mehr so pessimistisch sein, deswegen steckte sie das Handy einfach wieder ein und versuchte einen guten Blick auf den See zu erhaschen. "Oh, schau mal", sagte sie und deutete zu dem Anleger, an dem einige kleine Boote festgemacht waren. "Hier kann man wirklich Boote ausleihen." Und wenn alles anders gelaufen wäre, dann wären sie jetzt mit Sicherheit schon in einem von diesen Booten und würden in der Mitte des Sees das Wetter und die Ruhe genießen ...
"Sicher wird alles in Ordnung sien und selbst wenn nicht... dann ist es eben so und die zwei müssen zusehen, wie sie klar kommen," sagte David und beobachete Annie dabei, wie sie das Handy herausholte und einen Blick auf das Display warf. Bei dem Streit eben auf der Veranda hätte es gut sein können, dass sie einen Anruf überhört hatten. Aber dem war wohl nicht so. Also konnten sie noch immer anrufen, wenn sie am See waren, den Annie auch gerade entdeckte. Besser gesagt die Boote.
Er folgte mit seinem Blick ihrem ausgestreckten Arm und nickte. "Ja, daran gezweifelt hab ich eigentlich nicht... und wenn du magst, können wir ja doch ein bisschen rausfahren. Vielleicht haben sie ja auch Tretboote, die wären rückenschonender."
"Tretboote?", fragte Annie stirnrunzelnd. Na ja, die waren vielleicht Rücken schonender, aber sonst ... "Ich weiß nicht", meinte sie. "Immerhin müssen wir mit den Beinen, die das Boot antreiben auch wieder zurücklaufen. Das ist noch ein halber Tagesmarsch, den wir da vor uns haben. Meinst du, das bekommen wir hin?" Ohne was Essbares im Magen und so müde wie sie eh schon waren ... Und abgesehen davon, dass sie im Moment viel zu unruhig war, um entspannt auf dem See zu sein. Die Freude hatte ihr Jordan gründlich verdorben. Und sie wollte ja auch wieder zurück zu Renee und Garret, um dort nach dem Rechten zu sehen.
"Ich weiß nicht," sagte David und zuckte ehrlich mti den Schultern. "Eigentlich sind Tretboote nicht so anstrengend wie sie sich immer anhören. Ich dachte nur.. zum Ablenken...?", David sah Annie fragend an. Er wußte ja, dass sie keine große Lust mehr auf Aktivitäten hatte, schon gar nicht nach dem Streit, aber versuchen musste er es.
"Im Grunde gefällt mir die Idee ja auch", sagte Annie und ließ ihren Blick über den See schweifen, der immer mehr ins Blickfeld kam und dessen Wasseroberfläche zu verführerisch im schwachen Sonnenlicht glitzerte. Dort draußen war es sicher wunderschön und ruhig ... Als Ablenkung gerade zu geeignet. Aber trotzdem. Es fühlte sich nicht richtig an und Annie wusste nicht mal, ob es an Jordans dummer Bemerkung lag oder einfach daran, dass die Stimmung generell hinüber war. Aber sie spürte auch, dass es David wichtig war und er wohl gerne noch etwas von seinem Urlaub haben wollte. Das konnte sie auch gut verstehen, aber dennoch war es ein seltsames Gefühl ... "Was machen wir denn mit Renee?", fragte sie. "Und Garret? Wir sollten sie auf jeden Fall anrufen und ihnen sagen, dass wir Abby nicht gefunden haben - falls wir sie nicht doch noch hier finden und dann eh zurückbringen müssen - und fragen, wie es ihnen geht. Wenn sie uns nicht brauchen, dann ... dann können wir ja mal schauen, ob wir ein Boot mieten können. Wäre das ein Kompromiss?"
"Na also davon bin ich doch ausgegangen," sagte David überrascht, dass Annie tatsächlich annahm, ihm wäre das Bootfahren wichtiger, als erst einmal nach Abby zu suchen oder Garret und Renee anzurufen. "Erst Abby suchen, dann anrufen. Hören was los ist und ob sie uns brauchen. Das ist doch... klar, oder nicht? Also ich brauche da kein Kompromiss, falls das irgendwie falsch angekommen sein sollte."
"Doch ... ja ... sicher", stammelte Annie und senkte beschämt den Blick. Sie hatte nicht wirklich angenommen, dass David das Bootfahren vor allem vorziehen würde, aber so wie er es gesagt hatte, hatte es sich für sie so angehört, als wollte er auf jeden Fall gerne hinausfahren. Egal was noch geschah. "Natürlich habe ich das nicht gedacht", erklärte sie. "Weil es ... klar ist. Nur ... es hat sich wirklich so angehört, weil ... also wenn wir Abby finden, dann müssen wir sie zurückbringen. Und wenn Renee uns braucht, dann gehen wir auch auf jeden Fall zurück. Nur in dem Fall ... ich glaube nicht, dass ich es dann heute nochmal bis hierher schaffe." Und auch schaffen will, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn zum See gehen, bedeutete ab sofort auch, an Jordan und Woody vorbei zu müssen, und es reichte ihr schon, dass sie auf dem Rückweg nochmal an der Hütte vorbeigehen musste. Noch zweimal zusätzlich wollte sie das nicht tun.
"So war das auch gar nicht gemeint," sagte David nicht böse wegen dem kleinen Mißverständnisses. "Boot fahren wir nur, wenn wir hier keine Abby finden und uns Renee UND Garret nicht brauchen. Ansonsten bleiben wir bei unserem alten Plan. BBQ oder entspanntes Verandasitzen und .. und reden falls du das möchtest. Bis dahin."
"Sicher", sagte Annie lächelnd und erleichtert, dass es kein Problem wegen des Missverständnisses gab. Das hätte sie jetzt nicht auch noch gebrauchen können. Und natürlich wollte sie Garret nicht ausschließen. Sie hatte ihn nur nicht erwähnt, weil er ja vorhin noch auf jede Hilfe verzichtet hatte und sie sich nicht mehr aufdrängen wollte. Deswegen konzentrierte sie sich mehr auf Renee, wo ihre Hilfe dankbar angenommen worden war. Und das Thema Garret war ja eh für David unangenehm, was noch ein Grund mehr war, den Namen nicht so oft fallen zu lassen. "Was meinst du, ob wir einfach mal nach Abby fragen sollen?" Sie deutete auf eine Gruppe Spaziergänger, die gerade auf sie zukamen. Es waren zwar ältere Leute, aber das bedeutete ja nicht, dass sie schon blind oder zu kurzsichtig waren, dass sie ein junges Mädchen übersahen. Schon gar keins mit einem auffälligen Gipsarm. "Oder laufen wir einmal um den See herum? Wir könnten auch nach Abby rufen, wenn dir das nicht zu peinlich ist", schlug sie noch als Alternative vor und grinste David frech an.
David war froh, dass sie das so schnell geklärt hatten und sah ein wenig zuversichtlicher Richtung See, aus der ihnen eine kleine Gruppe Wanderer entgegen kam. Gerade als er daran denken musste, dass sie vielleicht Abby begegnet sein könnten, sprach Annie seinen Gedanken laut aus und er musste ungewollt schmunzeln. "Uhm.. wieso nicht. Also fragen meine ich. Rufen muss nicht sein. Und um den See laufen.. also er sah groß aus, als wir heute Morgen an ihm vorbeigefahren sind. Fragen wir lieber, ja?"
"Davids Schmunzeln irritierte Annie zwar, aber sie machte sich nicht weiter Gedanken darum. Wahrscheinlich hatten sie nur gerade wieder so einen Moment, wo sie dasselbe dachten und sie schneller gewesen war, es laut auszusprechen. Das kam bei ihnen ja häufiger vor, sodass Annie sich schon daran gewöhnt hatte und sich nicht mehr wunderte. "Gut, dann fragen wir lieber, bevor wir um dieses kleine Meer herumlaufen und heute Abend noch nicht wieder zurück sind." Sie grinste David an und trat dann kurzerhand der Gruppe Wanderer in den Weg, suchte sich schnell den aus, der ihr am auskunftsfreudigsten erschien und sprach eine Frau in Wanderhose an, die ihr graues Haar unter einem rotem Cappi versteckte und in den Händen zwei von diesen Nordic Walking Schlagstöcken hielt. "Entschuldigen Sie, Miss", sagte sie und lächelte freundlich, in der Hoffnung, dass das Lächeln von ihrem Aussehen ablenkte. "Haben Sie zufällig ein junges Mädchen gesehen? Blond, etwa meine Größe. Mit einem Gipsarm? Sie müsste hier vorbeigekommen sein." Die Gruppe blieb stehen und sah Annie skeptisch an. Die Frau runzelte die Stirn und drehte sich zu ihren Begleitern um, die sich kurz beratschlagten. Dann drehte die Frau sich wieder um und begann damit, Annie auf Französisch zuzutexten. Annie verstand kein Wort, musste aber irgendwie über die Ironie des Schicksals grinsen. War ja klar, dass sie ausgerechnet auf die einzigen Kanadier stießen, die hier unterwegs waren. Hätte sie damals in der Schule mal besser aufgepasst, dann hätte sie vielleicht mehr verstanden, als die Tatsache, dass es sich um Französisch handelte. Hilflos wandte sie sich an David und hoffte, dass er helfen konnte. Oder lernten die im Süden nur spanisch in der Schule? Das wäre dann wohl mehr als schlecht ...
"Eben, mein Gedanke," sagte David und grinste zurück, ehe er Annie zu der Gruppe folgte, von der Annie bereits eine Frau angesprochen hatte. Somit hatte sich die Frage geklärt, wer fragen durfte, musste.
Professionell sahen die Leute ja aus und David befürchtete schon fast, dass sie sich ziemlich gestört fühlen mussten, dass sie mitten im Schwung, den sie drauf gehabt hatten unterbrochen wurden. Aber da waren ein paar Prioritäten einfach wichtiger. Als die Frau dann jedoch auf Französisch loslegte, hatte David sehr viel mühe nicht einfach laut zu lachen. Ein Glück hatten sie heute wieder. Und dann sah ihn Annie noch hilfesuchend an. Er war in Miami aufgewachsen! Er verstand nur Englisch und Spanisch. Okay, ein paar Brocken konnte er aufschnappen, aber nicht viel... "Ehm.. ich glaube sie sagen, aus der Richtung aus der sie gekommen sind, gab es nur Bäume und Vögel. Ich glaube auch eine Elch. Aber keine Abby."
"Einen Elch?", fragte Annie irritiert und runzelte die Stirn. Nun ja, das musste David ihr gleich erklären. Was Elch auf Französisch hielt ... Wahrscheinlich hatte er sich das nur ausgedacht und nahm sie auf den Arm. Weil er nicht zugeben wollte, dass er wie sie nur Bahnhof und Kofferklauen verstanden hatte. "Ähm ... Gra-" Nein, das war spanisch ... "Merci, Madame", sagte sie und lächelte die Frau freundlich an und nickte den grinsenden Begleitern zu, bevor sie nach Davids Ärmel griff und ihn einfach an der Gruppe vorbeizog. Auf noch einen Schwall Vokabeln hatte sie keine Lust. Aber ob Abby jetzt wirklich nicht hier war, wussten sie wohl immer noch nicht genau. Na ja, dann würden sie wohl noch ein bisschen weiterlaufen, bis sie auf Abby stießen oder jemanden, der ihre Sprache konnte.
David nickte der Gruppe ebenfalls mit einem freundlichen Lächeln zu und trat etwas zur Seite, um sie an ihnen vorbei zu lassen. Er wartete, bis sie aus Hörweite waren und grinste dann Annie an. "Ja, ein Elch. Zumindest glaube ich, dass sie davon geredet haben. Ein Bär fände ich nämlich beängstigender. Du nicht auch?"